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Ankos weiteste Reise, ein Rennrad im Milchladen, Gagarin über dem Bett und eine alte Straßenbahn - 5 E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(lifePR) (Pinnow, )
Manchmal kommt es vor, dass ein Newsletter von einem einzigen Autor gefüllt wird. Und das ist zum Beispiel heute der Fall. Alle fünf aktuellen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 12.11. 21 – Freitag, 19.11. 21) zu haben sind, stammen von dem zu DDR-Zeiten ziemlich berühmten Kinder- und Jugendbuchautor Herbert Friedrich, der erst kürzlich einen stolzen Geburtstag feiern konnte und zwar seinen 95. Geburtstag. Und da es sich bei Herbert Friedrich wie gesagt, um einen vor allem als Kinder- und Jugendbuchautor bekanntgewordenen Schriftsteller handelt, so sind auch fast alle Bücher des heutigen Newsletters für junge Leserinnen und Leser geschrieben worden.

In „Rentiere in Not“ fasst ein kleiner Junge einen richtigen, aber auch sehr gefährlichen Entschluss.

In „Paule Rennrad“ stellt ein Radrennen eine Jungenfreundschaft auf eine Bewährungsprobe.

In „Hugos Wostok“ spiegelt sich die damalige Begeisterung für Juri Gagarin und seinen ersten Menschenflug ins All.

Und in „Die Geschichte von Pauls tapferer Kutsche“ erzählt Herbert Friedrich aus der Biografie einer alten Straßenbahn, die ihre letzte Fahrt hinter sich hat.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. In dem aktuellen Beitrag unseres Newsletters geht es um Entscheidungen auf Leben und Tod. Getroffen werden müssen sie in einer schwierigen Zeit, als der Faschismus nach der Weltherrschaft strebte und die Träume und Lebensentwürfe vieler Menschen infragestellte. Wie haben sie sich verhalten? Und woher haben sie die Kraft genommen, dem Bösen zu widerstehen? Aber auch die umgekehrte Frage darf und muss gestellt werden: Wo kommt das Böse eigentlich her und wie erlangt es Macht über Menschen? Und was lässt sich dagegen tun? Gerade heute …

Erstmals 1971 veröffentlichte Herbert Friedrich im Verlag Neues Leben Berlin seinen Band mit Erzählungen „Der stärkste Regen fängt mit Tropfen an“: In sieben dramatischen Erzählungen aus der Zeit von 1936 bis 1946 stellt der Autor junge Menschen vor bedeutsame, meist für sie oder andere lebensbedrohliche Entscheidungen. 1936, im faschistischen Deutschland, versteckt Hannelore ihren Bruder, der Flugblätter gedruckt und verteilt hat, vor den Häschern - und vor dem Vater.

Zwei Partisanen springen im Hinterland der von den Deutschen besetzten Sowjetunion mit dem Fallschirm ab, um mit Hilfe der kleinen Partisanenabteilung das Kesselhaus mit dem Stab der Panzerarmee zu sprengen und die Bevölkerung nicht zu gefährden.

Gefangene Wehrmachtssoldaten, die vor Ihrer Aburteilung stehen und denen Tod oder Strafkompanie drohen, erhalten durch Zufall die Chance, das Leben eines Kameraden zu retten.

Junge Menschen des Reichsarbeitsdienstes helfen ihren Vorgesetzten, einen sensiblen Musikstudenten psychisch und physisch zu quälen.

Junge Soldaten, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen haben, kommen zur Partisanenbekämpfung auf einen einsamen slowakischen Bauernhof.

In der kasachischen Steppe warten im Mai 1945 junge Männer auf die Nahrungslieferung. Hungern sie weiter oder tasten sie die Saatkartoffeln an? Da hören sie im Radio die Siegesparade auf dem Roten Platz.

In einem deutschen Kohlebergwerk wird das Leben der in der Nachkriegszeit hungernden Bergleute durch Diebstahl, Pfusch und Gleichgültigkeit bedroht. Hier der Anfang der ersten dieser sieben spannenden Erzählungen:

Der verlorene Vater

An einem der letzten heißen Spätsommernachmittage des Jahres 1936 stand Hannelore Lehnert in der niedrigen Küche der „Moorschenke“ und wusch ab. Hastig tauchte sie den Lappen in das Wasser, in dem sich die Spuren des Mittagessens mengten. Ihre Bewegungen verrieten Eile und Ungeduld. Das Geschirr klapperte in dem zerbeulten Asch.

Nicht dass Hannelore durch ein Übermaß an Arbeit zu einer solchen Eile getrieben worden wäre. Seitdem Ernst, ihr jüngerer Bruder, vor vier Jahren, halb vom Vater hinausgeworfen, das Haus verlassen hatte und vor zwei Jahren auch Joachim, der älteste der drei Geschwister, gegangen war, lebte sie mit dem Vater allein in der Wirtschaft. Die Mutter, von der noch ein vergilbtes Bild in der Oberstube über der Kommode hing, war an Tuberkulose gestorben, als Hannelore zehn Jahre alt gewesen war. Gäste aber kehrten ganz selten in der Schenke ein.

Hannelore wischte sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Luft war dämpfig, Dunst von gebratenen Zwiebeln und angebrannten Kartoffeln hing in der Küche. Draußen gab es den harz- und pilzduftenden Wald und die Stoppelfelder.

Sie kratzte den Rest Sauerkraut aus dem Topf und warf ihn in den Abfall. Sauerkraut fraßen weder die Ziege noch die sechs Kaninchen, die sich der Moorwirt noch hielt. Ein paar Hühner scharrten irgendwo im Hof. Lange war es her, da hatten sie Kühe und Schweine besessen. Das war zu Mutters Zeiten gewesen. Jetzt erhob sich am Platz des Stalles der kleine Saal.

Ihre Augen gingen wieder zum Fenster, als ob sie beim Anblick des Waldes, der das Hochmoor umschloss, die Schwüle nicht mehr so spürte. Der Wald war freilich weit weg. Wer behände zu Fuß war, konnte ihn in zwanzig Minuten erreichen. Nur an einer Stelle schickte er einen dunklen Streifen wie einen Finger durch den Feldgürtel abwärts. Das war die „Goldrinne“, der von Gebüsch umsäumte Hohlweg. Dort hinunter fuhren die reichen Bauern, der Bachmann und der Hilfert, ihr Getreide. Dort hatte sie als Kind Himbeeren gepflückt und dabei das erste Mal eine Schlange gesehen. Der lange, schlaksige Joachim hatte das Tier mit einem Stock erschlagen, worüber Ernst wütend geworden war, denn die Schlange war eine Ringelnatter gewesen.

Joachim war tot, im Rheinland verunglückt, vor knapp einem Monat. Ernst hasste die Schenke, das ganze Dorf. – Die Goldrinne lag in der Sonne …

Hannelore trocknete Messer und Gabeln ab, dabei brauchte sie die Augen kaum. Rechts vom Wald konnte sie ein Stück der Landstraße sehen, auf der die Brüder davongezogen waren. Hinter dem Wald, jenseits des Moores, das war schon nicht mehr Deutschland, dort lag die Tschechoslowakei. Ganz rechts aber, im Fenster nicht mehr sichtbar, erstreckte sich das Dorf und die Straße mit den Vogelbeerbäumen, die zur Schenke heraufführte.

Allein danach drängte es das Mädchen ungeduldig, nicht Hitze und Arbeit trieben es: Die Landstraße wollte es überschauen bis zum Dorf, das könnte am besten von der Oberstube aus geschehen.

Die Landstraße herauf musste der Briefträger kommen.

Sie schleppte den Asch mit dem Schmutzwasser hinaus, stieß die Tür auf und trat in den Flur. Tief atmete sie; hier war es kühler. Unter der Treppe befand sich die Pumpe.

Sie goss das Wasser weg und spülte den Asch aus, da hörte sie den Vater die hölzernen Stufen herabsteigen.

Eine unangenehme Kühle kroch ihr die Beine hinauf, als stände sie bloß auf den Steinplatten.

Sie kam unter der Treppe hervor, gerade als Paul Lehnert, der Moorwirt, an ihrem Ende angelangt war. Er zuckte zusammen, als das Mädchen so plötzlich vor ihm stand. Gebückt stand er da, abwartend, auch nachdem ihm Hannelore den Weg freigegeben hatte.

„Was ist?“, fragte sie leise.

Seine Augen lagen zwischen Fettpölsterchen in dem fleischigen Gesicht. Die herabgezogenen Mundwinkel machten es grämlich und unzufrieden. Auch rasiert hatte er sich wieder nicht. Seit Mutters Tod hatte er Fett angesetzt, einen Bauch hatte er bekommen und eine Glatze.

„Wenn wer nach mir fragt: Ich bin im Hof Holz hacken.“ Er blickte an ihr vorbei, während er sprach. „Also im Hof bin ich.“

„Gut, Vater“, antwortete Hannelore, und das meinte sie auch so. Gut, dass er im Hof war, wenn der Briefträger kam. Dem begegnete sie lieber allein.

Während Hannelore in der Küche die abgelaufenen Dielenbretter auftrocknete, fiel ihr ein, wie seltsam das gewesen war, was der Vater gesprochen hatte. „Wenn wer nach mir fragt …“ Wer käme zu einer Zeit, da jede Kraft auf den Höfen gebraucht wurde? Am hellen Tage? „Ich bin im Hof Holz hacken … Hörte man es nicht, wenn er hackte? Wozu sagte er es? Es musste ein wichtiger Gast sein, den der Vater erwartete.

Es ging bereits auf halb drei, als sie endlich mit einer Handarbeit am Fenster der Oberstube saß. Die Beilschläge hallten. Zur Moorschenke kam er immer zuletzt, der Briefträger. Erst musste er durch das ganze Dorf, das sich bis zum Johannsbach hinabdehnte und in einzelnen Gehöften weit über den Hang verstreute bis zur Steinrücke hinüber. Dabei war Seifersdorf ein kleines Dorf mit kaum siebenhundert Menschen. So ein Dorfbriefträger indes musste bergauf und bergab steigen, mit Paketen und Briefen und Geld. Die Postsparkasse hatte er auf dem Halse, und zwei Nachbardörfer ohne Poststelle betreute er. Den Kranken brachte er gewöhnlich, wenn er in Bruchstädt abrechnete, die Medizin mit aus der Apotheke. Und wenn man ihm ein Telegramm durchgab, musste er nachts aufstehen, auch im Winter oder im Regen.

Es gab hundert Gründe, weshalb sich ein Dorfbriefträger verspäten konnte. Hannelore fand sie. Denn sie liebte den jungen, breitschultrigen, manchmal etwas unbeholfenen Burschen.

Als sie ihn endlich in der prallen Nachmittagssonne das Rad den Berg heraufschieben sah, legte sie die Handarbeit beiseite und huschte die Treppe hinunter. Beruhigend klang das Krachen des trockenen Holzes unter Vaters Schlägen. Das Mädchen rannte zwischen Küche und Gaststube hinaus auf die Straße. Mit der festen braunen Hand die Augen beschattend, spähte sie ihm entgegen.

Der Mann mit dem Rad winkte und beeilte sich beim Aufstieg. Endlich stand er vor ihr, „Da bin ich, Hannel“, rief er fröhlich. „Was soll es sein, Eilbrief, Päckchen oder Telegramm?“

Sie blieb ernst, doch sie küsste ihn. Und sie sagte dann: „Kein Telegramm mehr: … verunglückt im Rheinland …“

„Verzeih …“ Er lehnte das Rad gegen die Hauswand und griff ihre Hand.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

1966 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Rentiere in Not“ von Herbert Friedrich – gedacht für jungen Leserinnen und Leser von neun Jahren an: Anko wäre gern mit Vater und Großvater mit dem Rentierschlitten mitgefahren, die als Geschenk für Mutter und das Baby, das sie mitbringen wird, Silberfüchse jagen wollen. Doch Anko kommt erst im nächsten Jahr zur Schule und ist nun der einzige Mann im Haus. Plötzlich regnet es in der verschneiten Tundra - so etwas gab es noch nicht im Februar. Ein Flugzeug kreist über ihm und wirft Papier ab. Anko kann noch nicht lesen, erkennt aber ein Rentier darauf. Erst will Großmutter ihm nicht glauben, dass es geregnet hat, doch dann liest sie selbst. Die Rentiere finden in der vom Regen vereisten Tundra kein Futter, ihre Hufe bluten, weil sie ins Eis einbrechen. Anko und Großmutter bitten den Leiter der Pelztierfarm um Hilfe, doch er will keine Männer abstellen, um die Rentiere zu einer eisfreien Futterstelle zuführen. Also ergreift Anko die Initiative, spannt das alte Rentier Einestange vor den Schlitten und bricht in die Jagdhütte des Vaters auf. Nur seine kleine Freundin Anjuschka weiß von seinem gefährlichen Vorhaben. Als er bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück ist, suchen alle Männer des Dorfes nach ihm. Anko schläft erschöpft in der Jagdhütte, Einestange hatte den Weg gefunden und ihn gerettet. Werden die Männer nun auch die Rentiere retten können? Lernen wir also den kleinen Anko kennen:

Rentiere in Not

Anko geht über den Schnee. Der Schnee singt und quarrt unter seinen Füßen, die in dicken Filzstiefeln stecken. Alles Land hat der Schnee zugedeckt, Monate schon, die Siedlung Dreihäuser und den vielarmigen Fluss, die Zwergbirken und die dünnen Lärchen und das Rentiermoos.

Rötlich schimmert der kalte Sonnenball, zaubert mattes Rot auf den Schnee und treibt die Kälte noch einmal an, treibt sie in Ankos flache Nase und in die Fingerspitzen. Anko rückt die Pelzmütze tiefer in die Stirn und krümmt die Finger ein zur Faust. Nun sind seine Handschuhe wie leere Tüten, und die Kälte findet die Finger nicht mehr.

Es ist Februar, die Tage wachsen, die Sonne wird kräftiger werden und den Sommer bringen und die Mücken. Dann wird Anko in das Flugzeug steigen, das ihn weg von Dreihäuser bringt, weit weg in die Schule von Bilibino, wo er wohnen wird. Wer weiß, wie weit. Es wird die weiteste Reise in Ankos sieben Lebensjahren sein.

Anko bleibt an dem Schwarzen Pfahl stehen. Dieser steckte in dem kleinen Hügel über der Siedlung, der Fuchsberg heißt. Von hier kann Anko ganz Dreihäuser übersehen. Die Siedlung besteht freilich nicht nur aus drei Häusern, es sind knapp zwanzig. Eines nach dem anderen kam hinzu, gesellte sich zu den übrigen, mit dem Giebel dem Weg zu. Anko kann sich noch erinnern, wie das letzte gebaut wurde.

In diesem letzten Haus wohnt Anjuschka, seine Gespielin. Nach dem Fluss zu steht dann nur noch der Schuppen mit den Booten und den Geräten, mit denen Vater und die anderen Männer zum Fischfang ziehen, wenn das Eis aufgebrochen ist. Dann wird man auch vom Fuchsberg aus den Fluss gut sehen können, wie er sein gelbbraunes Wasser dem Eismeer zuwälzt. Erst kommt der Fluss und dann das Birkengestrüpp und dahinter wieder der Fluss und endlich das weite Moosland, die Tundra, bis hin zum Himmel.

Vater sagt, der Fluss ist wild. Viele Arme hat der Flussriese, und kein Lastschiff trägt er in dieser Einsamkeit nordwärts. Und im Sommer überflutet er die Zwergbirkeninsel und tost in den hellen Nächten. Anko liebt den Fluss und Dreihäuser und Anjuschka. Und im Sommer wird er abfliegen.

Jetzt verdeckt der Schnee Fluss und Land. Wo geht die Grenze? Wo beginnt das Wasser? Der lange Winter hat den Fluss an den Ufern bis zum Grund gefrieren lassen. Und Baba Lisa sagt, wenn man das Ohr aufs Eis legt, höre man die Fische reden. Anko lacht. Seine Augen, die schwarzen Krähenbeeren gleichen, blicken fröhlich. Als wenn die Fische reden könnten! Baba Lisa kennt viele Geschichten, nicht nur die von den redenden Fischen. Die meisten sind nicht wahr, sind Märchen von Tieren und Menschen des Landes im hohen Norden. In den langen, finsteren Stunden der Winterszeit, da die Sonne kaum einmal der Siedlung Dreihäuser guten Tag sagen kommt und dicker Nebel über dem Fuchsberg lastet, erzählt Baba Lisa, und Anko und Anjuschka lassen die Augen nicht von ihren schmalen Lippen. Baba Lisa ist Ankos Großmutter. Sie erzählt von den Blaufüchsen und von den Schneehühnern. Und am schönsten dünkt Anko die Geschichte vom einsamen Rentier.

Es war einmal ein Rentier, das von seiner Herde abkam. Und nichts als Schnee gab es ringsumher und nichts als Sturm. Und es stellte sich gegen Schnee und Sturm mit gesenktem Geweih. Und als es aufhörte zu wehen, saß unter des Rentiers dicker Halsmähne ein Schneehuhn. Das Huhn bedankte sich bei dem Ren, da es ihm geholfen habe, den Sturm zu überstehen. Als es aber von der Not des Rentiers hörte, flog es auf, um die Herde zu suchen. Und es flog und flog, bis es auf einem Hügel einen Mann fand. Der hatte des Rentiers Herde gesehen. Und der Mann stieg in seinen Schlitten und trieb die Hunde an und erreichte die Herde und bat sie umzukehren. So fand das Ren seine Gefährten wieder. Und der Anführer der Herde, ein alter, verwitterter Hirsch, schenkte dem Mann alles Gold im Lande und dem Schneehuhn ein weißes, dichtes Gefieder.

Solche Geschichten erzählt Baba Lisa, und Anko geht daraufhin in das Gehege und schaut Großvaters einziges Rentier an. Vielleicht ist es der Hirsch der Herde? Es hat nur eine Geweihstange und ist sehr alt, in seinem Rentierleben bestimmt so alt wie Baba Lisa. Und Mutter kann ihm nicht ausreden, dass das Rentier Einestange nicht der Hirsch der Herde ist, da doch ein Ren mit nur einer Stange auf jeden Fall ein besonderes Tier sein muss. Denn die Geschichte vom einsamen Rentier, meint Mutter, ist doch nur ein Märchen.

Anko liebt den Fluss und den Winter und Anjuschka und Baba Lisa und das Rentier Einestange und die Mutter. Und im Sommer wird er fliegen.

Gestern hat er die Mutter davonfliegen sehen. Hier vom Schwarzen Pfahl auf dem Fuchsberg aus hat er dem Flugzeug nachgeschaut. Es hat die Mutter nach Bilibino in die Krankenstation gebracht. Großvater Kerginto sagt, mit dem Rentierschlitten wäre man zwei volle Tage nach Bilibino unterwegs. Eigentlich muss es Kerginto wissen, er zählt schon siebzig Jahre. Und das Rentier Einestange hat den Kopf bewegt, als stimme es zu. Aber Anko glaubt dem Rentier nicht. Es ist auch schon sehr alt. Es ist gut, dass Mutter mit dem Flugzeug reist, hoch in der Luft, hoch über das Gebirge. Und ehe sie sich’s versieht und ehe sie an jeden ihrer Lieben in Dreihäuser auch nur einmal richtig hat denken können, schon ist sie da.

Anko hat Mutter gebettelt, sie solle sich die Schule von Bilibino anschauen und nachforschen, wo er schlafen wird, und fragen, ob er eines von Anjuschkas Hündchen mitbringen könne; das würde bestimmt nicht beißen.

Nun ist Mutter fort. Was wird sie erzählen, wenn sie wiederkommt? Wenn sie wiederkommt, wird sie ein Kindchen auf dem Arm tragen, das man vor Pelzen und Decken kaum zu sehen bekommen wird. Ein Brüderchen für Anko. Oder ein Schwesterchen. Dann ist Anko der Große.

Anko auf dem Fuchsberg schlägt die Hände gegeneinander. Die Kälte hat die Finger doch gefunden, obwohl er sie zur Faust eingekniffen hält. Er muss lange warten. Er wartet auf die Jäger. Sie werden vom anderen Ende Dreihäusers kommen, wo die Silberfuchsfarm liegt. Die Reihen der auf Stelzen stehenden Käfige erscheinen vom Fuchsberg aus winzig. Dort hat Mutter gearbeitet. Nun bitten die Jäger den Indiw um ein gutes Rentier vor ihren Schlitten. Indiw wird sich nicht lange betteln lassen. Er ist der Vorsitzende des kleinen Pelztierkolchos, und er war mit Mutter immer sehr zufrieden; was soll er also sein Rentier Fett ansetzen lassen?

Indiw wird nicht brummen, denn die Jäger wollen für Mutter auf Jagd gehen. Sie wollen ihr etwas schenken, wenn sie wiederkommt. Die Jäger sind Großvater Kerginto und Wassil, Ankos Vater.“

Ebenfalls 1966 erschien auch im Kinderbuchverlag Berlin „Paule Rennrad“ von Herbert Friedrich – wiederum gedacht für junge Leserinnen und Leser von neun Jahren an: Paul und Jörg sind seit der Sandkastenzeit beste Freunde. Wenn Jörg „Pau-le“ ruft, weil er nicht so laut pfeifen kann, flitzt Paul aus dem Haus, klettert über eine hohe Mauer - und schon ist er auf dem Hof von Jörgs Haus. Überall hängen große Plakate, die ein Radrennen ankündigen - Start und Ziel ist direkt vor Jörgs Haus. Da Jörgs Familie ganz oben wohnt, gibt es keinen besseren Aussichtspunkt als Jörgs Balkon. Dort wird Paul am Sonntag mit Jörg das Rennen beobachten. Vorher muss Paul aber noch mit Jörg für das Diktat üben. Das hätte er auch getan, hätte er nicht die Filmleute vor dem Laden gesehen, die einen Hund brauchten. Jörgs Hund Brücke ließ sich von Paul entführen und Paul spazierte mit Brücke vor der Kamera, wofür er 5 Mark erhielt. Jörg beobachtete das von oben, riss Paul den Hund aus der Hand, nannte ihn Paule Hundefänger - und aus war es mit der Freundschaft und dem guten Ausblick auf das Rennen am Sonntag. Paul fand dann aber einen noch besseren Platz und durfte für den Rennfahrer Jo den Schlauch aufbewahren. Nach dem Rennen erfuhr er von einer echten Freundschaft, die Alfred den Sieg brachte. Solch ein Freund wollte er dem Jörg auch sein, von dem er schließlich den Namen Paule Rennrad erhielt. Und der wohnt in Blumenberg:

Paule Rennrad

Wer in die kleine Stadt Blumenberg am Rande der Heide kommt, der frage dort nach der Mühlenstraße, die kennt jedes Kind. Da wohnt nämlich Paule Rennrad. Hoch unter dem Dach eines dreistöckigen Hauses wohnt er, an dem nicht viel zu sehen ist, eines wie jedes andere in der bergigen Mühlenstraße. Vor dem Haus liegt ein Garten mit einem festen Zaun darum, in dem Paules Vater nach Feierabend jätet und hackt und endlich auch einmal erntet. Und hinter dem Haus erstreckt sich ein Hof, der von einer Mauer begrenzt wird. Von dieser Mauer kennt Paule jeden Stein. Dahinter dehnt sich nämlich ein anderer Hof. Der gehört zu dem Haus in der benachbarten Brückenbachstraße. Und dort wohnt Jörg. Und Paule ist sein Freund. Und seinen Namen hat Paule Rennrad diesem Jörg zu verdanken.

Sie hatten zusammen schon im Sandkasten neben der Ziegelmauer gespielt; sie hatten in mehr als einer Expedition den Lauf des Brückenbaches erforscht mit seinen Strauch-Urwäldern, Kiesel-Wasserfällen und Tränken, an denen die Vögel nippten.

Sie hatten die Zeit erlebt, da flinke, spaßige Maurer in der Mühlenstraße auftauchten und die neuen Läden bauten, in denen später Paules und Jörgs Mütter Milch und Gemüse, Fleisch und Backwaren kaufen konnten, gerade über der Straße vor Paules Wohnung. Da konnten sich die Mütter freuen. Solange aber an den Läden gebaut wurde, brauchten sie die beiden Jungen zur Abendbrotzeit nicht mehr zu suchen. Sie wussten genau, wo sie steckten: im Irrgarten der Baustelle, zwischen dem Geschachtel von Kalkbottichen und Schubkarren, unter Gerüsten und auf Ziegelgebirgen. Das war den Müttern nicht recht; wir können es verstehen, denn kein Mensch kann soviel Hosen flicken und waschen, wie die beiden dort verdarben.

Dann kam ein Tag, da erschien Jörg zu einem Treffpunkt mit Paule am schattigen Brückenbach und hatte einen anderen Freund bei sich, der hatte vier Beine und bellte. Das Hündchen brachte er auf dem Arm angeschleppt, ein schwarzes Knäuel. Sein Fell zitterte, und seine Nase war feucht. Jörgs Vater hatte das Hündchen von einem befreundeten Schlosser in der MTS geschenkt bekommen, und er hoffte, Jörg dadurch von der Baustelle fernzuhalten.

Paule freute sich über die Maßen, und sie verbrachten den lieben, langen Nachmittag damit, einen Namen für den Hund zu finden. Und da der Brückenbach ihnen mit seinem Geplätscher raten half, nannten sie das Hündchen Brücke. Ich glaube nicht, dass je ein Hund auf der Welt war, der Brücke hieß. Aber den Namen hatte ja Jörg gefunden, und ihr werdet an der Geschichte sehen, dass Jörg im Erfinden seltsamer Namen groß war.

Der Bau der Ladenstraße gedieh, der Hund wuchs heran, und schon gingen Paule und Jörg das vierte Jahr zusammen in die Schule am Wäldchen, hatten hundert Streiche verübt und tausend Abenteuer bestanden. Ja, sie gingen zusammen, einer wartete auf den anderen, einer schaute nach dem anderen aus. Wenn Paule oben am Fenster des dritten Stockes pfiff, trat Jörg im Haus jenseits der Mauer auf den Balkon heraus, trotz Regens und Schnees und auch in der heißen Sonne. Und wenn es Jörg im Hof zu langweilig wurde, hob er den Hund Brücke auf die Mauer, steckte seinen geschorenen Kopf darüber und rief gellend: „Pau-Ie!“ Denn pfeifen konnte er nicht so schön wie Paule, und die drei Treppen zu ihm hinaufsteigen mochte er nicht, das war Ihm zu hoch.

Und so wartete er an der Mauer, und Brücke musste mitrufen, bis sich Paules schmales, sommersprossiges Gesicht hoch oben am blanken Fenster zeigte. Tauchte es aber nicht auf, rief er wieder: „Pau-Ie!“ Und nun wissen wir schon, wie aus dem Paul ein Paule geworden war. Das aber ist erst die Hälfte seines Namens Paule Rennrad und kaum der Anfang unserer Geschichte.

An einem heißen Juninachmittag saß Paule auf der Mauer, als Jemand seinen Namen rief, mit hoher Stimme und nicht sehr laut; knapp und einfach Paul. Wie ein Befehl.

Paule gehorchte augenblicklich. Die Stimme gehörte seiner Mutter, der Frau Schenk. Er kroch von der Mauer herunter und hastete die Stufen im kühlen Treppenhaus hinauf bis unter das Dach. Die Wohnungstür war schon angelehnt, und Frau Schenk rumorte in der Küche. Sie nickte ihm zu und deutete auf den Tisch. Da lag Geld.

„Hole bitte Milch und Butter“, sagte sie, „sonst haben wir nichts zu essen.“ Sie schaltete das Bügeleisen an. Wenn man den ganzen Tag im Kindergarten arbeitet, muss man sich zu Hause sputen.

Paule bückte sich nach dem Milchkrug. „Einen Liter, drei Stück Butter …“ Er konnte sein Verslein schon auswendig. Auch fragte er, ob sie Eier brauche und Käse, und Herr Klemmchen hätte dieser Tage einen schönen Quark zu verkaufen. Und wenn Jörg käme, der solle warten, er sei gleich zurück.

Dies alles brachte Paule vor, ohne Luft zu holen. Und er schwenkte schon mit dem Milchkrug durch den Flur, als sich die Badtür öffnete. Vaters nasses Gesicht zeigte sich. Das Handtuch hing ihm noch um den Hals. Herr Schenk lachte über die verdutzte Miene seines Sohnes.

„Vater, da bist du ja!“ Paule hatte es auf einmal nicht mehr eilig. Wer will es Paule verdenken, da er doch seinen Vater so selten sah. Tagtäglich fuhr Herr Schenk mit dem Bus in das Stahlwerk, zu Zeiten, da Paule noch schlief oder schon wieder schlief. Den Milchkrug schob er auf das Schränkchen. Er musste die Hände frei haben, weil jetzt der übliche Boxkampf begann.

„Tollt nicht so laut!“, warnte Frau Schenk aus der Küche.

Atemlos hielt Paule inne.

„Für Sonntag“, sagte Vater, „habe ich eine Überraschung. Wir fahren an die Talsperre Malter baden. Da haben wir einen ganzen Tag für uns.“

Paule stieß ein Indianergeheul aus und tanzte im Flur. Das war eine Botschaft, die sich hören ließ. Ja, Vater als Stahlwerker wusste, was Hitze war. Und Mutter bügelte in der Küche. Das war auch nicht gerade eine Arbeit zum Abkühlen. Wie werden sie sich am Stausee strecken …

„Nun geh einkaufen“, mahnte Herr Schenk.

Paule rannte zur Tür hinaus. Die Treppe hinunter und über die Straße, das war alles eins. Hundegebell verfolgte ihn. Das mochte Brücke sein, der bereits mit Jörg auf Paule wartete.

Herrlich ist es, an einem Sommertag an die Talsperre zu fahren und sich im Strandbad zu aalen. Braun kommt er wieder, als wäre er in Kuba gewesen oder zumindest an der Ostsee. Viele Boote treiben über das Wasser und entfalten kleine weiße Segel. Für einen solchen Genuss konnte man sich gut und gern gedulden, bis man im Milchladen an der Reihe war. Und vielleicht durfte Jörg mitfahren …

Da entdeckte Paule das Rennrad, mitten im Milchladen. Das Plakat mit dem Rennrad hing an der Kasse, dort, wo jeder vorübergehen musste und es so leicht sehen konnte. Was wollte das Rennrad im Milchladen?

Eigentlich waren es drei Räder auf dem knallgelben Plakat. Die Rennfahrer lagen in der Kurve und lieferten sich einen Kampf auf Biegen und Brechen; das erkannte Paule an ihren Gesichtern. Und sie wurden ihm lebendig, keuchten, und die Beine wirbelten, und die Räder rasten und schnurrten. Und eine Fanfare schien ihm entgegenzudröhnen: Friedensfahrt! Paule lächelte. Keine Meldung von diesem Rennen im Mai hatte er sich entgehen lassen. Und sein Rad stand wohlgepflegt im Schuppen und sah großen Ausflügen entgegen.

Nun zappelte Paule ungeduldig, bis er seine Waren bekam, und als er endlich an die Kasse treten konnte, vergaß er das Bezahlen, weil er endlich lesen wollte, was auf dem Plakat geschrieben stand.

Preis der MTS Blumenberg - Großes Rundstreckenrennen

Als Paule so weit gelesen hatte, verlangte Herr Klemmchen, der bebrillte Verkaufsstellenleiter mit dem schütteren Haar, energisch das Geld von ihm. Paule bezahlte verdattert, murmelte eine Entschuldigung und wandte sich dann aufs Neue dem Plakat zu.“

Bereits erstmals 1964 erschien als Band 46 der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ des Kinderbuchverlags Berlin „Hugos Wostok“ von Herbert Friedrich – diesmal gedacht für junge Leserinnen und Leser von sieben Jahren an: Hugo ist begeistert von Gagarin und seinem Flug mit der „Wostok“ ins All. Er schneidet alles aus der Zeitung aus, was er hierzu finden kann. Und er liest ein Buch nach dem anderen. Er ist nicht begeistert, als ihn sein Freund einlädt, sich ein Modellflugzeug zu bauen. Hugo ist etwas ungeschickt und manches Stück Sperrholz geht zu Bruch. Doch seine Freunde aus der Klasse helfen ihm und warten mit dem Start Ihres Flugzeugs, bis Hugo seins fertig hat. Großsprecherisch beschriftet er es: Wostok. Und zum Start fahren Sie sechs Kilometer mit dem Fahrrad zum Lugturm. Das Flugzeug fliegt immer weiter und sie verlieren es aus den Augen. Tagelang suchen sie die „Wostok“, bis auch Hugo aufgibt. Eines Tages kommt der Traktorist in die Klasse. Und so beginnt die Geschichte mit dem zweifachen „Wostok“:

Hugos „Wostok“

Jeder kennt die Geschichte vom ersten Weltraumflug eines Menschen. An einem Frühlingstag stieg er in das Raumschiff, schoss in den Himmel und umkreiste einmal die Erde: ein neuer Himmelskörper, ein kleiner Mond. Und darin ein Mensch.

Er hieß Gagarin, ihr wisst es. Und das Jahr, in dem er flog, werden die Kinder und wieder die Kinder lernen, alle Jahre, immer und ewig: 1961.

Und das Raumschiff nannte man „Wostok“. In der Sprache jenes Mannes heißt das „Osten“. Denn im Osten geht die Sonne auf, die uns Licht und Wärme schenkt.

Wo er vom Himmel heruntergeschossen kam, wo er den Fuß wieder auf die Erde setzte, war eine weite Ebene, tief im Innern der Sowjetunion. Felder gab es hier und Wiesen, wie überall. Aber es war eine besondere Erde, das wussten auch die Bauern des nächstgelegenen Dorfes: Hier landete der erste Kosmonaut. Und so beschlossen die Bauern, an jener Stelle ein Denkmal zu errichten.

Die Geschichte von Hugo dagegen kennt nicht jeder. Die will ich euch jetzt erzählen. Hugo wohnte weit weg vom Landeplatz der „Wostok“, länderweit. Er wohnte aber ganz nahe bei euch, in einem kleinen Dorf der Elbaue. Er war so um die neun Jahre alt, etwas klein geraten und hatte ein paar Sommersprossen auf der Stupsnase. Jetzt könnt ihr ihn euch schon vorstellen.

Hugo schnitt alles aus den Zeitungen aus, was er vom Weltraumflug fand. So geschah es mitunter, dass Vater am Abend beim Entfalten der Zeitung in ein großes Loch blickte. Er sah durch das Loch auf Hugo, und so schien Hugo in der Zeitung zu stecken. Und er musste Vater alles erzählen, was auf dem herausgeschnittenen Stück gestanden hatte.

Das Bild des Weltraumfliegers hängte sich Hugo übers Bett an die Stelle des Scherenschnittes vom gestiefelten Kater. Mutter fand am nächsten Morgen den gestiefelten Kater unterm Bett, und sie tadelte: „Du bist liederlich.“ Das kostete ihm seinen Pudding. Hugo aß für sein Leben gern; es fiel ihm schwer, auf den Pudding zu verzichten. Hugo verschlang auch anderes, nämlich Bücher. „Er frisst sie“, meinte sein Vater während der Frühstückspause zu den Arbeitskollegen im Ziegelwerk und dachte an die Löcher in den Zeitungen. Doch das sagte er stolz. Hugos Zensuren erfreuten jeden Lehrer. „Nur mit den technischen Arbeiten“, gestand Hugos Vater, „da macht er mir Kummer. Ich möchte wissen, von wem er das hat, diese zwei linken Hände …“ Hugos Vater hätte gern noch weiter erzählt, aber er wurde zur Ziegelpresse gerufen, um dort einen Schaden zu beheben.

Auch Frau Becker erzählte. Frau Becker war Hugos Lehrerin, und sie erzählte vom Raumschiff. Das war Hugo sehr lieb. Wenn Frau Becker nicht weiter wusste, da sie ja auch noch nicht um die Erde geflogen war, dann holte Hugo die Zeitungsausschnitte hervor. Und so kamen sie alle gut um die Erde und landeten glatt. Als es am Stundenende klingelte, überlegten sie gerade, wie das Denkmal aussehen könnte, welches die sowjetischen Bauern am Landeplatz errichten wollten.

Nun war die Schule aus, und Frau Becker brauchte ihre Klasse nur noch fernzusteuern: Ein Wort, und die Kinder erhoben sich. Ein weiteres Wort, und sie standen an der Tür, zwei zu zwei, wie es sich gehört. Eins, zwei, drei schritten sie die Treppe hinunter, erreichten das große Tor, und dann ... Dann versagte die Fernsteuerung. Dann rannten die dreißig Mädel und Jungen hinaus in das Aprilwetter, so schnell wie die Menschen in der fernen Sowjetunion auf das gelandete Raumschiff zugesprungen sein mochten.

Hugo trabte neben Hock die Dorfstraße hinab. Hock hieß sonst Gerolf. Doch als er in die Hockeymannschaft aufgenommen worden war, freilich als jüngster, hatte ihm die Klasse stolz den neuen Namen verliehen. Hugo neben ihm geriet ins Schwitzen.

„Du hast heute die Brigade rausgerissen“, lobte Hock, „mit deiner Erzählerei übers Raumschiff.“

Großspurig winkte Hugo ab.

„Das Raumschiff hat die Wolken angebohrt“, murrte Hock. „Jetzt kommt das ganze Wasser raus.“

„Ich kann schwimmen“, sagte Hugo. Als aber die Tropfen größer wurden, schimpfte er mit. „Das weiß nicht, ob es regnen oder schneien soll.“ Er dachte auch an seine schöne blaue Hose, die er heute zum ersten Mal trug. Der würde das Wetter gar nicht bekommen.

„In fünfzig Jahren“, sagte Hock, „kannst du das Wetter bestellen, wie du willst. Willst du Ski fahren, bestellst du dir Schnee.“ Hugo keuchte: „In fünfzig Jahren bin ich neunundfünfzig. Da will ich nicht mehr Ski fahren. Und dem da helfen deine fünfzig Jahre auch nicht.“ Er deutete auf einen Traktoristen, der seinen Traktor aus einem Feldweg auf die Straße lenkte.

Der Traktorist war wirklich nicht glücklich über das Wetter. Er duckte sich hinter der Schutzscheibe, und von seiner Lederjacke troff die Nässe.

„Guten Tag“, sagte Hock.

„Kennst du ihn?“, fragte Hugo.

Hock sah dem schmutzstarrenden Traktor hinterher. „Das ist Herr Garbe. Mit dem muss ich mich gutstellen. Der ist nämlich Platzwart auf dem Sportplatz.“ Dann seufzte er: „Hoffentlich kommt die Sonne bald raus. Der Sportplatz steht auch noch unter Wasser.“

Der Traktor hielt vor ihnen. Natürlich war die Bahnschranke heruntergelassen. Drüben blinzelte Schrankenwärter Findeisen nach der Uhr und nach seinem Häuschen. In seinem Schnurrbart hingen Tropfen.

Hugo nickte einen Gruß hinüber und erklärte dann: „Den Herrn Findeisen, den kenne ich nun wieder. Der geht jeden Freitag mit Vater kegeln.“ Traktorist Garbe schrie über die geschlossene Schranke hinweg dem Bahnwärter zu: „Du konntest mich ruhig noch durchlassen!“

Der Traktorist hatte eine große Nase, einen richtigen Riecher.

Wie hätte Bahnwärter Findeisen den Traktor so kurz vorm Sternburger Zug noch durchlassen können? Mitten auf dem Gleis wäre der Traktor stehengeblieben, todsicher.

„Mit dem Raumschiff“, träumte Hugo, „hält dich keine Schranke. Du startest und sagst ‚Achtung!’, und du hast das Wort noch nicht ganz heraus, da bist du schon zehn Kilometer geflogen.“

Herr Garbe stellte den Motor ab; da hörten sie in der Ferne den Sternburger Zug tuten. Hock legte die Arme auf den nassen Schrankenbaum. Bahnwärter Findeisen hob die buschigen Brauen, und Hugo zog Hock fix zurück in die Nähe des warmen Traktors. „Hände weg von der Schranke“, warnte Herr Findeisen. „Passt lieber auf, dass euch der Zug nicht vollspritzt!“

Dort, wo die Schienen über die Straße führten, war nämlich ein richtiger See.

Unvermittelt sagte Hugo: „Jetzt kann ich den ganzen Weg zurücklaufen!“

Hock blinzelte ihn neugierig an. „Warum denn?“

„Ich habe die Bücher nicht abgegeben in der Bücherei. Ich schleppe alles wieder mit heim.“

„Du erstickst noch mal in Büchern, du Leseratte.“

Hugo nahm Hocks Lächeln nicht krumm. Besser in Büchern ersticken als im Straßenschlamm. Jetzt hätte er ein Fahrzeug gebrauchen können. Nicht gerade ein Raumschiff, aber wenigstens einen Traktor. Zu Fuß ginge er nicht noch einmal zurück. Da blieb er lieber an der Schranke stehen. Ihr müsst wissen, er hatte doch die neue Hose an. Sie hörten schon den Zug rattern. Traktorist Garbe warf die Zigarettenkippe weg, und Schrankenwärter Findeisen nahm die Flagge unterm Arm hervor, mit der er dem Lokomotivführer zeigen wollte, dass alles in Ordnung war.“

Noch zwei Jahre früher – bereits erstmals 1962 erschien als Band 12 der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ des Kinderbuchverlags Berlin „Die Geschichte von Pauls tapferer Kutsche“ von Herbert Friedrich – diesmal gedacht für junge Leserinnen und Leser von acht Jahren an. Das Buch entstand nach Motiven der Erzählung „Der tapfere Straßenbahnwagen“ von Marcello Argilli und des gleichnamigen Trickfilms des VEB DEFA-Studios für Trickfilme: Ein alter Straßenbahnwagen tritt den Weg ins Museum an. Er hat ein tapferes Leben hinter sich. Davon erzählt er seinen Nachbarn im Museum. Er berichtet von dem kleinen Paul, der später, als er erwachsen war, mit ihm durch die Stadt fuhr. Immer stand der Straßenbahnwagen seinem Kutscher zur Seite, und darum liest man seine Geschichte voller Interesse. Aber hören wir zunächst einmal den Spatzen zu:

Die Geschichte von Pauls tapferer Kutsche

„Tschilp tschilp“, lockte ein Spatz und pickerte auf dem groben Kopfsteinpflaster zwischen den Straßenbahnschienen.

„Tschilp tschilp“, antwortete ein zweiter. „Guten Appetit, Meister Flatterwisch.“ „Danke sehr“, sagte der erste. „Nehmen Sie Platz, hier ist es gemütlich.“

Eifrig begannen beide zu pickern. Es war eine stille, enge Nebenstraße. Die großen Autos und die schnellen Motorräder brummten weit weg von hier in den Geschäftsstraßen, und das Straßenbahngleis gehörte zu einer stillgelegten Strecke.

„Man findet heute selten etwas Gutes zu futtern. Die Straßen sind viel zu sauber“, schimpfte Spatz Flatterwisch.

„Krächzehals“, sagte der zweite.

„Wollen Sie mich beleidigen?“

„Krächzehals ist mein Name. Ich habe mich Ihnen nur vorgestellt.“

„Entschuldigen Sie. Das ist man heute gar nicht mehr gewohnt. Gestern hat einer von mir verlangt, ich sollte Insekten jagen wie die Schwalben oder Lieder tirilieren wie die Heidelerchen, um mir mein Futter zu verdienen.“

„Ja, ja“, klagte Krächzehals, „Zeiten sind das heute …“

Flatterwisch kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Erschrocken stieß er sich vom Boden ab und strich zur Seite. Um die Kurve summte und quietschte ein alter Straßenbahnwagen und ratterte über die Stelle, wo die Spatzen gerade noch gefrühstückt hatten.

Von einer HO-Reklame herunter starrten sie der Bahn nach.

„Haben Sie gesehen“, schrie Krächzehals. „Die hatte gar keine Fensterscheiben mehr!“

Flatterwisch hatte auch etwas gesehen.

„Die Nummernkästen waren verbeult, und die Nase war eingedrückt.“

„Und die Farbe blätterte überall ab. So würden wir uns nicht in die Stadt wagen.“

„Bestimmt nicht“, rief Flatterwisch und strich sich das ruppige Gefieder glatt.

Sie vergaßen über der kleinen Straßenbahn ihr Frühstück, und das will bei Spatzen etwas heißen. Ja, die Neugier siegte sogar über ihre Faulheit, so dass sie sich in die Luft schwangen und hinter der Bahn herflatterten.

„Sollen etwa in solchen Bah-Bah-Bahnen Menschen fahren?“, krächzte Krächzehals erschöpft. So schnell war er seit seiner Jugend nicht mehr geflogen.

Und Flatterwisch schimpfte: „Es wird immer schle-schle-schlechter heutzutage.“ Auch er war aus der Puste gekommen. Und hätte die Bahn nicht vor einem großen Tor gehalten, das zu einem schlossähnlichen Gebäude gehörte, sie hätten sie nie und nimmer eingeholt. Ein weißhaariger Mann mit runzligem Gesicht stand an der Kurbel und wartete, bis der Pförtner die beiden Torflügel weit aufgeschlagen hatte. Da drehte er seine Kurbel, und – ruckdieruck – setzte sich das Bähnlein in Bewegung und verschwand den Spatzen aus den Kulleraugen. Das Tor wurde Krächzehals vor der Nase zugeschlagen, als er halsbrecherisch hinterherstürzen wollte. Da hättet ihr den Sperling schimpfen hören sollen! Sämtliche Flüche aus der Spatzensprache kamen aus seinem Hornschnabel. Und auch den ruppigen Flatterwisch verschonte er nicht.

„Sie Feigling!“, schimpfte er. „Sie hocken gemütlich auf einem Fenstersims, und ich opfere mein Leben!“

„Kommen Sie nur herauf, wenn Sie die Bahn sehen wollen. Ich habe sie längst wieder entdeckt, während Sie sich im Straßenstaub wälzen.“

Flatterwisch plusterte sich stolz und drückte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Einen großen Saal sah er mit Riesensäulen und glitzernden Kronleuchtern an der Decke. An der Gegenseite befand sich eine prächtig geschnitzte Eichentür, so groß, dass die kleine Straßenbahn bequem hindurchfahren konnte. Und das tat sie in diesem Augenblick wirklich.

„Eine schäbige Bahn“, brummte Flatterwisch. „Und die will heutzutage in einem Schloss wohnen.“ Er zuckte vor einem Schatten zusammen, aber es war nur Krächzehals neben ihm gelandet.

„Lass sehen, lass sehen!“, tschilpte dieser erregt. Gönnerhaft hüpfte der andere zur Seite. Jetzt starrten zwei Paar Spatzenkulleraugen in den Saal.

Die zerbeulte Bahn war inzwischen auf den Steinplatten bis zur Mitte gefahren. Der weißhaarige Mann stieg aus und schaute sich zufrieden um. Dann zog er ein Tuch hervor und putzte der Bahn die Lampenaugen.

Da musste Krächzehals aber lachen. „Sehen Sie nur, er wischt dem Klapperkasten die Tränen ab.“

„Wie denn, was denn, wo denn?“, piepste Flatterwisch, weil er ganz woanders hingesehen hatte.

Was es auch alles zu schauen gab! Richtige Kanonen standen zwischen den Säulen neben Bergen von Kanonenkugeln. Gewehre aus längst vergangenen Zeiten gab es und Uniformröcke, Helme und Degen aus allen Jahrhunderten. An der Wand hingen eigenartige Waffen: Keulen mit Eisenspitzen, die Morgensterne. Und Dreschflegel hingen auch da. Alles blinkte im Sonnenlicht und leuchtete in so vielen Farben, wie sie nur ein Maler hat. Kein Wunder, dass Flatterwisch über diesem Blinken das Glitzern der Straßenbahntränen übersehen hatte. Er war wirklich ein ruppiger Bursche.

„Der Alte geht“, meinte Krächzehals. Der Weißhaarige stand schon an der Eichentür, an der er sich noch einmal nach dem Bähnlein umschaute. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Flatterwisch ruckte den Kopf hin und her. Dafür war er eben ein Spatz. Hätte er nämlich lesen können, so hätte er gerade über dem Fenster, auf dessen Sims er hockte, in riesigen Steinbuchstaben das Wort MUSEUM gefunden.

„Fliegen wir ab. Das ist ja langweilig hier!“, rief er jetzt. „Was wollen wir noch länger diesen Klapperkasten anstarren …“

Da begann es im Saal zu rattern und zu klappern, zu quietschen und zu klirren, zu wispern und zu raunen. Die Spatzen blieben erstarrt hocken.

Die Kanone drehte sich mit ächzenden Rädern der Straßenbahn zu und musterte sie. Ein Dreschflegel beugte sich so weit von der Wand herüber, dass er zu pendeln begann. Gewehre, Helme, Spieße, Lanzen, Morgensterne – alles ringsum schaute auf die kleine Bahn in der Mitte. Die wusste gar nicht, wo sie hinsehen sollte, weil sie hier neu und noch ein bisschen schüchtern war, wie ein Schulkind, das in eine neue Klasse kommt.“

Und dann beginnt die alte Straßenbahn aus ihrem langen Leben zu erzählen – Geschichtsunterricht aus ungewöhnlicher Perspektive. Aber auch die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters greifen diesmal weit in die Geschichte zurück, zumindest bis Anfang der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und bieten mehr als nur ein Stück Erinnerung, sondern auch aufschlussreiche Einblicke in die damalige Gesellschaftsordnung, in die Lebensumstände, die Hoffnungen und Träume der Menschen im kleineren deutschen Staat und ihre Sicht auf die Welt – zumindest wie man sie für druckbar hielt …

Viel Vergnügen beim Lesen und Erinnern, weiter einen schönen und möglichst nicht ganz so stürmischen November, bleiben Sie auch weiter vorsichtig, vor allem aber trotz aller Unsicherheiten und wieder zunehmenden Warnungen und Gefahrenmeldungen weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach übrigens, wissen Sie eigentlich noch, was eine MTS war? Manchmal braucht es inzwischen vielleicht eine Art DDR-Wörter-Lexikon, um Texte von früher entschlüsseln zu können …

EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 27 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.100 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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